“Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.” Dieses berühmte Zitat Helmut Kohls beschäftigt die ca. 80 Schüler des 10. Jahrgangs der Oberschule an der Deilich in Bad Harzburg seit ungefähr einem halben Jahr ganz besonders: Im Rahmen ihres Geschichtsunterrichtes sowie in verschiedenen Projekten arbeiteten die Schüler zu Themen wie Zivilcourage und Rassismus. Auf Fahrten nach Liebenburg und Halberstadt beschäftigten sich einige von ihnen in diversen Ausstellungen zum Holocaust mit den Gräueltaten des Naziregimes in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Sie erarbeiteten sich zudem wichtige Aspekte über das Leben der jüdischen Gemeinde in Deutschland – vormals und heute – lernten dabei Lebensweisen und Gebräuche kennen, diskutierten darüber, wie wichtig Respekt und Toleranz in unserer heutigen Gesellschaft sind und wie man sie in ihrer jungen Generation realisieren kann. Die Schüler setzten sich mit den mutigen Taten stiller Helden, wie Anne Frank oder Emilie und Oskar Schindler auseinander.
Erika Rosenberg, Nachlassverwalterin und Biografin der Schindlers als Zeitzeugin
So war natürlich ein besonderer Höhepunkt der anstehende Besuch von Erika Rosenberg, als Nachlassverwalterin und Biografin von Emilie und Oskar Schindler. „Zeitzeugen lassen uns Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, viel besser begreifen und fassbar machen,“ so eine Schülerin. Frau Rosenberg befand sich auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Goslar im Landkreis. Nachdem sie in andernorts bereits über die beeindruckende Rettungsaktion des Ehepaares Schindler berichtete, konnte sie auch die Einladung an die Schule zu einem zweistündigen Zeitzeugenvortrag wahrnehmen.
Erika Rosenberg gelang es, mit ihrem Vortrag beeindruckend aus einer Zeit zu berichten, in der Zivilcourage, Respekt, Ehrlichkeit und selbstloses Handeln ein seltenes Gut waren. Genau dies erkannten die Schüler. Sie waren sich in der nachgehenden Diskussion einig darüber, dass es sich auf jeden Fall lohnt, sich für andere Menschen einzusetzen.
Erika Rosenbergs Herkunft
Erika Rosenberg begann, von ihrer Herkunft aus Argentinien zu erzählen. Dorthin sind ihre Eltern noch vor Beginn des 2. Weltkrieges im Jahr 1936 über Paraguay hin ausgewandert. Sie selbst wurde in Buenos Aires geboren. Ihre Großeltern hatte sie nie kennen gelernt, erzählt sie deshalb selbstbewusst und bestimmt. Auch haben ihre Eltern die Zeit des Nationalsozialismus in Erzählungen aus der Heimat Deutschland komplett ausgespart, was ihr Interesse an Geschichte weckte. Einigen Schülern waren derartige Fluchtsituationen vor einem Terrorregime aus eigener Erfahrung bekannt, kommen viele von ihnen doch selbst aus ehemaligen Kriegsgebieten, wie Syrien, Irak oder dem Kosovo. Auch betrifft uns alle der Krieg zwischen Russland und Ukraine. Viele geflüchtete Familien leben bereits in Bad Harzburg und Umgebung. Es konnten Parallelen gefunden werden – es war nicht schwer, sich in die Lage der Familie Rosenberg auf der Flucht vor ca. 75 Jahren vor dem Naziregime hineinzuversetzen.
Emilie und Oskar Schindler – Stille Helden im Widerstand
Beeindruckt waren die Schüler zudem von der spektakulären Hilfsaktion des Ehepaares Schindler und der Rettung von etwas mehr als 1200 Juden vor dem sicheren Tod. Viele Fragen beschäftigte die Schüler. Frau Rosenberg beantwortete jede einzelne mit sehr viel Geduld. Als unfassbar haben die Schüler die fehlende Aufmerksamkeit für Emilie Schindler aufgenommen. So spielte sie doch eine unendlich wichtige Rolle für ihren Ehemann und natürlich auch für ihre Schindlerjuden. Nach Verlegung der Schindler`schen Fabrik von Krakau nach Brünlitz im Jahre 1944 kümmerte sich Emilie Schindler fast ausschließlich allein vor Ort, z.B. um Nahrungsmittel oder Medikamente während ihr Mann viel unterwegs war und versuchte, Bestechungsgelder für die SS zu organisieren – insgesamt waren dies 2.640.000 RM. Heute wären es ungefähr 26 Millionen Euro. Sehr beeindruckend werden mehrere Situationen in der Biografie „Ich, Emilie Schindler“ beschrieben. Erika Rosenberg erzählte abschließend davon, wie sie zu Beginn der 1990er Jahre auf Emilie Schindler traf, die damals zurückgezogen und verarmt in Argentinien lebte. Sie wurden in den darauf folgenden Jahren Freundinnen und Erika Rosenberg zu einer ihrer wichtigsten Wegbegleiterinnen. „Emilie Schindler und ich haben gezeigt, dass Versöhnung möglich ist“, so Erika Rosenberg während sie den Schülern von einzelnen gemeinsamen Stationen erzählte. Wichtig für Emilie Schindler war es, nachfolgende Generationen aufzuklären und Anerkennung zu erhalten, für das, was sie getan hat. So wurde sie 1994 durch den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Im Haus der Geschichte in Bonn befindet sich ihr zu Ehren eine kleine Ausstellung mit alten Fotos aus ihrem Nachlass und dem Nachlass ihres Mannes, welchen sie nie im Original zu Gesicht bekam. Dies, wie auch die späte Nachricht über den Tod ihres geliebten Ehemannes gehörten zu den größten Enttäuschungen in ihrem Leben. Auch dem Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg brachte sie sehr viel Kritik entgegen. Viele Sachverhalte würden hier falsch dargestellt oder gar nicht erst vorkommen.
Dennoch glaubte Emilie Schindler bis zuletzt an das Gute im Menschen, die bedingungslose Liebe und das Vertrauen, das man Menschen entgegenbringen sollte. Im Alter von 96 Jahren ist Emilie Schindler verstorben. Sie wurde 2001 in Frankfurt am Main, der Heimatstadt ihres Ehemannes Oskar, beigesetzt.